R. v. Friedeburg (Hg.): "Patria" und "Patrioten" vor dem Patriotismus

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Titel
"Patria" und "Patrioten" vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert


Herausgeber
Friedeburg, Robert von
Reihe
Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 41
Erschienen
Wiesbaden 2005: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Schmidt, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

„Patriotismus ist untrennbar verbunden mit Demokratie und Freiheit.“ Wie diese jüngere Äußerung des ehemaligen sächsischen Kultusministers Dr. Matthias Rößler belegt, bedürfen gerade aktuelle Debatten historischer Urteilskraft. „Communities“, Heimaten und Vaterländer werden dabei immer wieder bemüht, wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität in einer sich rapide wandelnden Welt geht. In der (deutschen) Frühneuzeitforschung wurde gesellschaftliche Kohäsion lange Zeit vor allem aus religions- und insbesondere konfessionshistorischer Perspektive untersucht. Nun sind in den letzten Jahren verstärkt auch nationale und regionale Zugehörigkeiten und Begriffsfelder wie Nation und patria/ Vaterland und die damit verbundenen normativen Implikationen ins Blickfeld geraten.1 Der hier anzuzeigende Sammelband bietet nichts Geringeres als eine ebenso faszinierende wie facettenreiche ideen- und verfassungsgeschichtliche Zusammenschau unterschiedlichster Diskussionen über Vaterland/ patria von Spanien bis Schweden mit einem Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert. Die Modi des patria-Gebrauchs reichen von nationaler Propaganda gegen die schwedische Aggression in Dänemark (Olden-Jørgensen) bis zu den individuellen, moralischen Reflexionen des Kanzlers Michel de L’Hospital über das Frankreich der Religionskriege des späten 16. Jahrhunderts (Greengrass).

Welcher intellektuelle Spagat dabei insgesamt freilich zu bewältigen ist, deutet bereits der komplizierte Titel an. Die Leser/innen fühlen sich hier an scheinbar paradoxe Formeln wie „Nationalismus vor dem Nationalismus“ oder mittlerweile aufgegebene Begriffsbildungen wie „Protonationalismus“ erinnert. Was sind „Patrioten vor dem Patriotismus“ – etwa Protopatrioten? Die umfangreiche Einleitung Robert von Friedeburgs (S. 7-54) gibt hier eine Antwort. Im Anschluss an die Beiträge Reinhart Kosellecks und Conal Condrens möchte er den sprachgeschichtlichen Befund Ernst nehmen, dass der Terminus „Patriotismus“ im englischen wie im deutschen Sprachraum erst im frühen 18. Jahrhundert auftaucht. Insbesondere Koselleck sieht in seinem Essay (S. 535-552) mit dem Patriotismus des 18. Jahrhunderts eine Umwälzung der politischen Semantik vor sich gehen, in deren Gefolge andere Ismen und Bewegungsbegriffe wie Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus nachrücken. Die Mehrzahl der Beiträger folgt dem jedoch nicht und verwendet relativ unbekümmert den Begriff „Patriotismus/patriotism“, um Loyalitäten gegenüber dem Vaterland im 16. und 17. Jahrhundert zu kennzeichnen. Das zugrunde liegende Problem begriffshistorischer oder analytischer Terminologie ist zugegeben nicht nach strengen Wahrheitskriterien, sondern nur dezisionistisch zu lösen. Von ähnlichem Charakter ist z.B. die Frage, ob man den (deutschen) Humanismus um 1500 als Nationalismus verstehen kann.2 Legt man etwa Vierhaus’ Bestimmung des Patriotismus als einer „moralisch-politischen Haltung“ zu Grunde, so ließe sich durchaus von einem solchen bereits vor dem 18. Jahrhundert sprechen.3 Noch vor dem Aufkommen des Neologismus „Patriot“ im späten 16. Jahrhundert bestand bei einer humanistisch geprägten Elite eine klare Vorstellung über einen mit Tugenden, Naturrecht und Pflichten verbundenen amor patriae, der sowohl das tägliche Wirken für das Gemeinwesen und dessen Verbesserung als auch den Kampf gegen dessen Feinde einschloss.

Friedeburg folgt dem sprachgeschichtlichen Befund auch in einem anderen wesentlichen Punkt. So verlangt er gerade für die Frühe Neuzeit, zunächst einmal strikt zwischen natio/ Nation und patria/ Vaterland zu trennen, um deren zum Teil sehr verschiedenen Semantiken gerecht zu werden (S. 13). Wie aus beinahe allen Beiträgen deutlich wird, konnten die verschiedensten Loyalitätsverhältnisse mit patria – von der Heimatstadt bis zum königlichen Hof (vgl. den Beitrag von Gil) – umschrieben werden.

Friedeburg unternimmt es dennoch, den unterschiedlichen Gebrauch von Termini wie patria und Patriot im 17. Jahrhundert unter eine einheitliche Perspektive zu stellen. Diese ist bereits aus zahlreichen seiner früheren Veröffentlichungen bekannt.4 Er sieht zusammengefasst die Leistung der patria-Semantik in einer Bestimmung des Gemeinwesens als Rechtsordnung im Rahmen herrschaftlicher Verdichtung und damit in der Ausdifferenzierung von Recht und Politik (S. 43). Diese anspruchsvolle Metaerzählung – von der patria zum Rechtsstaat – erscheint freilich auch als Prokrustesbett. Zahlreiche Beiträge zu Spanien (Gil), Irland (Ellis) und Schweden (Schmidt-Voges, Droste) fokussieren auf die zunehmende Konvergenz von patria und Nation und damit auf komplizierte Fragen der Nationsbildung, die im Einleitungstext genauso wie das aggressive Ab- und Ausgrenzungspotential von „Vaterland“ eher unbeachtet bleiben.

Leitet man die Bedeutung eines Begriffes vornehmlich pragmatisch aus seinem Gebrauch ab, so präsentieren die hier nur in Auswahl zu nennenden Einzelbeiträge ein reiches semantisches Spektrum. Gestützt auf britische Quellenbefunde von Jakob I. bis Adam Smith sieht Condrens auch methodisch anregender Text (S. 67-94) die Verwendung des Neologismus „patriot“ eingebettet in eine „rhetoric and ethics of office“ (S. 71). Die Selbstbezeichnung „patriot“ wäre somit nicht notwendig mit einer patriotischen Ideologie verbunden. Vielmehr ermöglichte sie es, eigene Parteinahmen im Sinne einer Amtspflicht gerade auch gegen offizielle Amtsträger wie den König zu legitimieren. Inhaltlich weiterführend kann Glenn Burgess auf breiter Quellenbasis für die englische Diskussion des 16. und 17. Jahrhunderts – und damit gegen Maurizio Viroli 5 – nachweisen, dass eine „language of liberty“ und Themen des „civic humanism“ durchaus vereinbar mit der monarchischen Realität vor und während des Englischen Bürgerkrieges waren (S. 215-241).

Die komplizierte Struktur von Herrschaft und diversen Loyalitäten in der zusammengesetzten spanischen Monarchie beleuchten die Beiträge von Xavier Gil (S. 105-137) und Xavier Torres (S. 138-168) im Lichte eines beeindruckenden Spektrums von patria-Verwendungen. Gerade mit Blick auf Aragon und Katalonien zeigt Gil, dass das iberische Herrschaftskonglomerat der Habsburger bis zum Ende des Erbfolgekriegs im frühen 18. Jahrhundert rechtlich und in der Wahrnehmung seiner Bewohner weniger dem Klischee des frühmodernen Nationalstaates, als vielmehr einer „multinational monarchy“ entsprach (S. 118). Zugleich macht er auch auf die schrittweise Herausbildung einer „spanishness“ und einer panhispanischen Identität auf der Basis von Krone und Katholizität im 17. Jahrhundert aufmerksam.

Steven G. Ellis lenkt den Blick auf die verschlungenen Wege irischer Identitätsbildung. Im Gefolge der Tudorherrschaft wurden dabei pan-gälische ethnische Vorstellungen durch ein neues Modell der „irishness“ abgelöst. Es umfasste die katholischen Bewohner Irlands unterschiedlicher, gälischer und englischer Kultur und Sprache und grenzte die protestantischen Kolonisten aus. Der instruktive Beitrag von Inken Schmidt-Voges weist vor allem auf die Bedeutung humanistisch geprägter Historiografie für die Konstruktion eines Vaterlands Schweden und einer vermeintlich uralten gotischen Herkunft hin, die dessen Herauslösung aus der Kalmarer Union unter Gustav I. Wasa im 16. Jahrhundert ideologisch flankierte.

Stärker genuin ideengeschichtliche Akzente setzen Michael Seidlers an gegenwärtigen Fragestellungen interessierte Interpretation Pufendorfs (S. 335-365), Horst Dreitzels so gelehrt wie perspektivenreiche Studie zur deutschen patria-Diskussion u.a. bei Prasch, Pufendorf, Leibniz und Becher (S. 367-534!) und die Überlegungen Hans Bloms (S. 193-214) zur niederländischen Politiktheorie. Aus der Lektüre Spinozas, Grotius’ und De La Courts entwickelt Blom eine klare These: Patriotismus habe keine gesellschaftlich integrierende Funktion in der niederländischen Republik des 17. Jahrhundert erhalten. Sie sei vielmehr allein durch „self interest“, Toleranz und Zivilreligion gestützt gewesen. Diese Interpretation scheint dem Rezensenten etwas einseitig zu sein. Blom ignoriert damit nicht nur die so zahlreichen wie populären patriotischen Sujets in der Dramatik etwa Joost van den Vondels, sondern auch die anlässlich des Friedensschlusses 1648 veranstalteten Feierlichkeiten und diverse patriotische Bildprogramme an öffentlichen Gebäuden.

Ob „king and country“ oder „king or country“ – wie dieser überzeugende Sammelband belegt, war patria ein attraktives Schlagwort, um die Interessen unterschiedlichster Akteure in den frühneuzeitlichen Gemeinwesen zu transportieren. Diese Einsicht in die Manipulierbarkeit zentraler politischer Begriffe ist nicht banal. Will man dennoch nicht bei scheinbarer Beliebigkeit stehen bleiben, erscheint es verstärkt nötig, vergleichend ein patriotisches Vokabular zu rekonstruieren und auch danach zu fragen, welche Kompensations- und Motivationsleistungen es gerade für unzureichende rechtliche Bindungen in funktional noch nicht ausdifferenzierten Gesellschaften erbrachte. Die vorliegende Publikation bietet hierfür eine hervorragende Grundlage.

1 Sas, N. C. F. van (Hg.), Vaderland. Een geschiedenis vanaf de fiftiende eeuw tot 1940, Amsterdam 1999; Schmidt, Georg, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999.
2 Hirschi, Caspar, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005.
3 Vierhaus, Rudolf, „Patriotismus“ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Ders., Deutschland im 18. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 96-109.
4 Zuerst: Friedeburg, Robert von, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669, Berlin 1999.
5 Viroli, Maurizio, For Love of Country. An Essay on Patriotism and Nationalism, Oxford 1995.

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